Sinnesräume für Menschen mit Demenz: Gestaltung und Wirkung

By Ann-Marie Ebel

Demenz ist durch neurodegenerative Prozesse gekennzeichnet, die kognitive, emotionale und sensorische Funktionen beeinträchtigen (World Health Organization [WHO], 2021). Besonders in fortgeschrittenen Stadien werden Sprache, Orientierung und Gedächtnis zunehmend eingeschränkt. Im Gegensatz dazu bleiben sensorische Wahrnehmungskanäle wie der Geruchs-, Hör- und Tastsinn vergleichsweise lange intakt (van Weert et al., 2005).

Multisensorische Räume („Snoezelräume“) nutzen gezielte Reize über verschiedene Sinneskanäle, um Wohlbefinden zu fördern, Angst zu reduzieren und Kommunikation zu erleichtern (Sánchez et al., 2013).

Warum Sinnesräume bei Demenz wirksam sind

Menschen mit Demenz verarbeiten Reize oft verzögert oder unstrukturiert. Das kann zu Reizüberflutung oder Rückzug führen (Maseda et al., 2014). Multisensorische Stimulation wirkt dem entgegen, indem sie strukturierte und dosierte Reize bietet. Studien zeigen signifikante Effekte auf Unruhe, Aggression, Apathie und depressive Symptome, wenn Sinnesreize individuell angepasst sind (van Weert et al., 2005; Silva et al., 2022).

Insbesondere biografisch bedeutungsvolle Reize (z. B. Musik aus der Jugendzeit oder Düfte wie frisches Brot) aktivieren autobiografisches Gedächtnis und Emotionen (Cohen-Mansfield et al., 2011).

Gestaltungsempfehlungen

1. Vertrautheit statt Überflutung

Vertraute Gegenstände und Reize haben einen beruhigenden Effekt. Beispielhafte Elemente:

  • Düfte: Lavendel zur Beruhigung, Zimt zur Aktivierung, Kaffeearoma zur Erinnerungsförderung (Silva et al., 2022)
  • Gegenstände: Telefon mit Wählscheibe, alte Stoffmuster, Gebetbücher
  • Klänge: Ticken einer Pendeluhr, Kirchenglocken, Naturgeräusche wie Regen oder Vogelstimmen

2. Multisensorische Ansprache

Eine effektive Gestaltung spricht möglichst viele Sinnesmodalitäten an (Ozdemir et al., 2013):

SinnBeispiele
SehenWarmweißes Licht, Pastelltöne, Tageslichtsimulation
HörenMusiktherapie mit bekannten Liedern (Schlager, Volkslieder), Windspiel
RiechenAromatherapie mit Lavendel, Orange, Vanille
TastenTastpfade, unterschiedliche Textilien (Strick, Holz, Leder)
BewegungSchaukelstühle, leichte Dehnübungen mit Therabändern, Balancepads

3. Sicherheit und Orientierung

  • Klare Raumstruktur mit Zonen für Ruhe, Bewegung, Interaktion
  • Möbel mit abgerundeten Ecken
  • Beleuchtung ohne Blendung oder Schattenbildung
  • Orientierungshilfen wie farblich codierte Bodenmarkierungen

Wirkung in der Praxis

Praktische Anwendungen von multisensorischen Räumen zeigen positive Effekte auf das Verhalten und die Stimmung von Menschen mit Demenz. Studien berichten von einer Reduktion von Agitation, Angst und Depression sowie einer Verbesserung der sozialen Interaktion und des allgemeinen Wohlbefindens (Maseda et al., 2018).
Eine randomisierte Studie von van Weert et al. (2005) zeigte, dass Bewohner:innen mit Demenz in Pflegeheimen durch die Integration von Snoezelen in die tägliche Pflege signifikante Verhaltensverbesserungen zeigten. Auch Angehörige berichten über positive Veränderungen: häufigeres Lächeln, verbale Äußerungen und reduzierte Unruhe.

Dokumentierte Wirkungen:

  • Reduktion von Agitiertheit und Aggression (Sánchez et al., 2013)
  • Verbesserung von Schlafqualität und Tagesstruktur (Silva et al., 2022)
  • Förderung von Erinnerungen und biografischem Erzählen (Cohen-Mansfield et al., 2011)
  • Stärkung sozialer Interaktion durch geteilte Sinneserlebnisse

Praktische Beispiele für niederschwellige Sinnesangebote

Riechstationen:

  • Kleine Gläser mit Watte und ätherischen Ölen (Pfefferminze, Rose, Tanne)
  • Duftkarten zum Raten und Erinnern („Was erinnert dich an Weihnachten?“)

Fühlstationen:

  • „Tastkisten“ mit Bohnen, Sand, Seidenstoff
  • Kombination aus Temperatur- und Texturwechseln (Wärmekissen, Kühlsteine)

Klangangebote:

  • Musikbox mit individualisierter Playlist (über App oder MP3)
  • Naturgeräusche (Wasser, Wald) über Lautsprecher oder Kopfhörer

Biografiearbeit mit Objekten:

  • Erzählkiste mit Fotoalben, Werkzeugen, Haushaltsgegenständen aus den 1950er–1970er Jahren
  • Kombination mit Fragen: „Was hast du früher gerne gekocht?“

Bewegungsförderung:

  • weiche Wurfspiele oder Übungen mit Igelbällen zur taktilen Stimulation
  • Sitztanz mit rhythmischer Musik

Fazit

Multisensorische Räume bieten eine evidenzbasierte Methode zur Unterstützung von Menschen mit Demenz. Durch gezielte Reize können sie zur Verbesserung von Stimmung, Verhalten und Lebensqualität beitragen. Die Integration solcher Konzepte in den Pflegealltag erfordert sorgfältige Planung und individuelle Anpassung, zeigt jedoch vielversprechende Ergebnisse in der Praxis (van Weert et al., 2005).

Quellen
  • Cohen-Mansfield, J., Thein, K., Marx, M. S., & Dakheel-Ali, M. (2011). The impact of stimuli on affect in persons with dementia. Journal of Clinical Psychiatry, 72(4), 480–486. https://doi.org/10.4088/JCP.09m05694oli
  • Maseda, A., Sánchez, A., Marante, M. P., González-Abraldes, I., de Labra, C., & Millán-Calenti, J. C. (2014). Multisensory Stimulation on Mood, Behavior, and Biomedical Parameters in People With Dementia: Is it More Effective Than Conventional One-to-One Stimulation? Journal of Aging and Health, 26(4), 650–665.
  • Maseda, A., Cibeira, N., Lorenzo-López, L., González-Abraldes, I., Buján, A., de Labra, C., & Millán-Calenti, J. C. (2018). Multisensory Stimulation and Individualized Music Sessions on Older Adults with Severe Dementia: Effects on Mood, Behavior, and Biomedical Parameters. Journal of Alzheimer’s Disease, 63(4), 1415–1425.
  • Ozdemir, L., Akdemir, N., & Tufekci, F. G. (2013). Effects of multisensory stimulation on cognition, depression and anxiety levels of mildly affected Alzheimer’s patients. Journal of Neurological Sciences (Turkish), 30(1), 1–9.
  • Sánchez, A., Millán-Calenti, J. C., Lorenzo-López, L., & Maseda, A. (2013). Multisensory Stimulation for People With Dementia: A Review of the Literature. American Journal of Alzheimer’s Disease & Other Dementias®, 28(1), 7–14. https://doi.org/10.1177/1533317512466693
  • Silva, A. G. da, et al. (2022). Use of multisensory stimulation in institutionalized older adults with moderate or severe dementia. Dementia & Neuropsychologia, 16(2), 180–187. https://doi.org/10.1590/1980-57642021dn16-020011
  • van Weert, J. C. M., van Dulmen, A. M., Spreeuwenberg, P. M. M., Bensing, J. M., & Ribbe, M. W. (2005). Behavioral and mood effects of snoezelen integrated into 24-hour dementia care. Journal of the American Geriatrics Society, 53(1), 24–33. https://doi.org/10.1111/j.1532-5415.2005.53006.x
  • World Health Organization. (2021). Dementia fact sheet. https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/dementia