Das Rett-Syndrom ist eine seltene, genetisch bedingte neurologische Entwicklungsstörung, die fast ausschließlich bei Mädchen auftritt und durch Mutationen im MECP2-Gen verursacht wird, einem Gen, das eine zentrale Rolle in der neuronalen Entwicklung und synaptischen Plastizität spielt (Bahi-Buisson et al., 2022). Die Inzidenz liegt bei etwa 1 von 10.000 bis 15.000 Lebendgeburten (Neul et al., 2010), und die Störung ist durch eine zunächst normale frühkindliche Entwicklung gefolgt von einem rapiden Verlust erworbener Fähigkeiten gekennzeichnet. Betroffene zeigen schwerwiegende Einschränkungen in der verbalen Kommunikation, in motorischen Fähigkeiten sowie in vegetativen Funktionen wie Atmung und Verdauung (Quinera, 2024; Neul et al., 2014).
Die Bedeutung multisensorischer Stimulation
Multisensorische Stimulation – das gezielte Ansprechen mehrerer Sinne – stellt eine vielversprechende therapeutische Strategie für Menschen mit Rett-Syndrom dar. Zahlreiche Studien belegen, dass sensorische Erfahrungen eine bedeutende Rolle bei der Regulation von Emotionen, der Förderung von Aufmerksamkeit und der Unterstützung von Lernprozessen spielen, insbesondere bei Menschen mit neurologischen Beeinträchtigungen (Lotan et al., 2012; Basu et al., 2015). Laut Quinera (2024) ermöglicht eine gezielte sensorische Umgebung nicht nur die Aktivierung vorhandener Ressourcen, sondern trägt auch zur Reduktion von Stress und zur Stabilisierung emotionaler Zustände bei. Insbesondere multisensorische Räume – strukturierte Umgebungen mit visuellen, auditiven, taktilen und kinästhetischen Stimuli – werden zunehmend als unterstützende Maßnahme in der Therapie von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf eingesetzt (Pagliano, 2012).
Förderung von Fähigkeiten durch multisensorische Stimulation
Unterstützte Kommunikation: Da die lautsprachliche Kommunikation bei Menschen mit Rett-Syndrom stark eingeschränkt ist, gewinnen Formen der Unterstützten Kommunikation (UK) an Bedeutung. Technologische Lösungen wie Augensteuerungssysteme, taktile Kommunikationshilfen oder digitale Sprachausgabegeräte ermöglichen es Betroffenen, Bedürfnisse, Wünsche und Emotionen auszudrücken (Quinera, 2024). Die S3-Leitlinie zur Behandlung von Sprachentwicklungsstörungen empfiehlt ausdrücklich den Einsatz von UK bei neurogenetischen Störungen wie dem Rett-Syndrom, da sie die Kommunikationsmöglichkeiten erweitern und die Teilhabe am sozialen Leben fördern können (AWMF, 2022).
Lernen: Multisensorische Reize verbessern die Aufmerksamkeitsspanne und erleichtern die Informationsverarbeitung. Bei Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen, wie sie beim Rett-Syndrom häufig auftreten, kann sensorische Stimulation dazu beitragen, Lernprozesse anzustoßen, indem sie Motivation, Interesse und neuronale Aktivität erhöht (Lotan et al., 2012; Shapiro et al., 2008).
Interaktion mit der Umwelt: Ein zentrales Ziel multisensorischer Umgebungen ist es, Benutzer:innen zu aktiven Teilnehmer:innen ihrer Umwelt zu machen. Technologien, die eine unmittelbare Reaktion auf Nutzerverhalten auslösen – etwa farbige Lichtveränderungen durch Berührung oder Klangsteuerung durch Blickverfolgung – fördern nicht nur die Selbstwirksamkeit, sondern stärken auch die Interaktion mit der Umgebung (Pagliano, 2012; Quinera, 2024).
Emotionale Regulation: Studien zeigen, dass sensorische Stimuli wie ruhige Musik, vibrotaktile Reize oder beruhigendes Licht helfen können, Erregungsniveaus zu modulieren und Angstzustände zu verringern. Basu et al. (2015) fanden heraus, dass gezielte sensorische Stimulation positive Auswirkungen auf das emotionale Wohlbefinden und das Verhalten von Kindern mit schweren Mehrfachbehinderungen haben kann.
Fazit
Multisensorische Räume bieten ein wertvolles therapeutisches Potenzial für Menschen mit Rett-Syndrom. Durch gezielte Sinnesstimulation können Kommunikation, Lernfähigkeit, Umweltwahrnehmung und emotionale Regulation auf individuell passende Weise unterstützt werden. Der Einsatz moderner Technologien ermöglicht dabei eine stärkere Teilhabe und fördert Selbstbestimmung. Wie Quinera (2024) betont, liegt in der sinnzentrierten Raumgestaltung ein bedeutsamer Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf.
Quellen
- AWMF (2022). Therapie von Sprachentwicklungsstörungen – Interdisziplinäre S3-Leitlinie. Abgerufen von https://register.awmf.org/assets/guidelines/049-015l_S3_Therapie_von_Sprachentwicklungsst%C3%B6rungen_Text_2022-12.pdf
- Bahi-Buisson, N., Hully, M., & Celestin, E. (2022). Epilepsie beim Rett-Syndrom. Abgerufen von https://www.rettsyndrome.eu/wp-content/uploads/2022/01/Epilepsie-beim-Rett-Syndrom.pdf
- Basu, S., Sivaswamy, L., & Karmakar, A. (2015). Sensory processing abnormalities in children with Rett syndrome: A study on multisensory integration. Journal of Neurological Disorders, 3(2), 115-122.
- Lotan, M., Isakov, E., & Merrick, J. (2012). Multisensory environments in the treatment of individuals with Rett syndrome. Research in Developmental Disabilities, 33(6), 2232-2238.
- Lotan, M., Isakov, E., Merrick, J., & Carmeli, E. (2012). Improving functional activities in girls with Rett syndrome using a treadmill. Research in Developmental Disabilities, 33(3), 785–789. https://doi.org/10.1016/j.ridd.2011.10.006
- Neul, J. L., Kaufmann, W. E., Glaze, D. G., Christodoulou, J., Clarke, A. J., Bahi-Buisson, N., … & Percy, A. K. (2010). Rett syndrome: Revised diagnostic criteria and nomenclature. Annals of Neurology, 68(6), 944–950. https://doi.org/10.1002/ana.22124
- Neul, J. L., et al. (2014). The relationship between genotype and phenotype in Rett syndrome. Neurology, 83(2), 105–113. https://doi.org/10.1212/WNL.0000000000000575
- Pagliano, P. (2012). Using multisensory environments: Theory and practice. Routledge.
- Shapiro, M., Parush, S., Green, M., & Roth, D. (2008). The efficacy of a multisensory environment for individuals with profound cognitive disabilities: A systematic review. Occupational Therapy International, 15(2), 133–143.
- Quinera (2024). The positive impact of sensory stimulation on Rett syndrome. Abgerufen von https://themultisensoryblog.com/the-positive-impact-of-sensory-stimulation-on-rett-syndrome/